Hand in Hand

Mittlerweile ist meine Sammlung fotografierter Schirmbeutel auf 85 angewachsen. Ungefähr so viele Menschen habe ich gefragt, ob sie noch wissen, woher sie die Beutel haben, bevor ich ihnen von meiner Suche erzähle. Einmal fragte mich eine Passantin, ob ich Frau Loos kenne. Sie ist aus der Verwandtschaft und hätte auch viel zu erzählen, worauf ich antwortete, dass ich mich mit ihr bereits zum Gespräch verabredet habe.

17 Jahre hat Frau Loos in der Reklamation gearbeitet, von 1973 bis 1990.
In ihrer Abteilung arbeiteten sechs Personen. Zwei Männer reparierten Schirme. Eine Frau nähte. Eine Andere verpackte. Die Leiterin kümmerte sich um die Ersatzteile und Frau Loos stand im direkten Kontakt mit den Kunden. Als gelernte Verkäuferin war sie es gewohnt mit den Leuten zu reden, war gern im Austausch. Frau Loos erzählt, dass sie glücklicherweise gelernt hatte, mit der Schreibmaschine zu schreiben, was ihr bei der Arbeit in der Schirmfabrik hilfreich war. Alle zurück geschickten Schirme wurden von ihr ausgepackt und geprüft, ob einer Reklamation entsprochen und damit Garantie gewährt werden kann. Auch wenn nicht, mussten die Käufer angeschrieben werden, ob sie gewillt sind, die Kosten der Reparatur zu übernehmen. Frau Loos erzählt, dass jeden Tag große und kleine Päckchen mit Reklamationen kamen, die bearbeitet werden mussten. Auch Reklamationen aus den Centrum-Warenhäusern gingen wieder in die Schirmfabrik zurück. Selbst aus dem Ausland kamen Rückläufer. Frau Loos erzählt von Kunden die Westschirme schickten. Auch diese wurden repariert, selbst wenn andere Ersatzeile nötig gewesen wären.
Es kam vor, dass Kunden bösartige Briefe schrieben. Bei solchen schwierigen und hartnäckigen Fällen stand dann ein TKO-Leiter zur Verfügung, der mit ihr über die Beantwortung der Schreiben entschied. Sie erinnert sich an die Beschwerde einer Frau, die nach einem Friseurbesuch im Regenwetter feststellen musste, dass der Schirm Farbe lässt. Sie wollte nicht nur einen neuen Schirm, sondern auch die Übernahme der Kosten beim Friseur. Sie einigten sich auf den Umtausch des Schirmes. Der häufigste Reklamationsgrund betraf die Automatik. Die Feder sprang nicht mehr richtig zur Krone und musste ausgewechselt werden oder die Schirmstabspitzen waren abgebrochen und wurden ersetzt. Andere Kunden haben das Etui bzw. Futteral ihres Schirmes verloren und nach Ersatz gefragt.

Vorbildlicher Kundendienst
Nach sechs Jahren Gebrauch war die Automatik meines Schirmes defekt. Ich wandte mich deshalb an den Hersteller, den VEB Schirmfabrik Karl-Marx-Stadt, Werk III Adorf mit der Bitte um Reparatur. Freudig erstaunt erhielt ich in kurzer Zeit einen äußerlich fast völlig neuen, intakten Schirm, sogar mit Futteral und als Garantieleistung zurück. Das ist ein außergewöhnlich guter Kundendienst und ein öffentliches Lob wert.
Irene Detzner, Schwerin-Lankow

[Zeitungsabschnitt, Unterlagen Frau M.]

Frau Loos erzählt, dass ihre Abteilung, also Reparatur mit Werksleitung, TKO-Leitung, Seidenlager, Gestelllager und Küche eine Brigade3 bildeten. Ihre Brigade hieß Karl-Liebknecht. Wenn jemand in der Küche ausfiel, kam es vor, dass sie von der Werkleiterin gebeten wurde, Essen mit auszugeben oder zum Frühstück belegte Brötchen zu verkaufen. Auch in der Kantine fehlte mal eine Verkäuferin und Frau Loos sprang ein. Erfreut war sie nicht immer darüber, da ihre Arbeit dann liegen blieb. Aber es musste eben alles Hand in Hand gehen.
Frau Loos arbeitete bis zuletzt in der Schirmfabrik, sogar noch etwas länger. Neben den Reklamationen, die immer noch kamen, recherchierte sie nach der Währungsunion alle Geschäfte, die Bekleidung und Schirme führten und vorher von der Schirmfabrik beliefert wurden, um die im Lager sich ansammelnden Schirme zu verkaufen. Mit einem voll gepacktem Trabant Kombi fuhr Frau Loos gemeinsam mit einer Kollegin durch das ganze Erzgebirge bis nach Dresden. Hauptverkaufsschlager waren Stockschirme, erzählt sie, die gingen noch sehr gut. Dreimal sind sie insgesamt losgefahren. Mit leerem Auto kamen sie wieder, haben alles verkauft.

3Brigade
“Arbeitsbrigade: ein Kollektiv von Werktätigen, das zur Lösung gemeinsamer Aufgaben in sozialistischen Betrieben aller Wirtschaftsbereiche gebildet wird und nach dem Prinzip der kollektiven, gegenseitigen Hilfe und Unterstützung arbeitet. Die B. hat einen Leiter (Brigadier) und arbeitet auf der Basis eines B.-vertrages, der die ökonomischen, politischen und kulturellen Zielsetzungen sowie die materielle Stimulierung regelt. Die B. ist Grundlage des betrieblichen Wettbewerbs; B., die sich durch besondere Leistungen bei der Anwendung neuer Arbeitsmethoden, der Steigerung der Arbeitsproduktivität, der Verbesserung der Qualität, der Durchsetzung des wissenschaftlich-technischen Fortschritts usw. auszeichnen, können Ehrentitel verliehen werden. […]”

1
Meyers Neues Lexikon, 2., völlig neu erarb. Aufl. in 18. Bd., Bd. 2, Leipzig 1972, S. 558, sv. “Brigade”