Seit heute morgen regnet es. Ich packe einen kleinen Schirm in meine Jackentasche, obwohl mir der Gedanke, mit ihm durch Adorf zu spazieren, ein leichtes Unwohlsein bereitet. Der Schirm fällt fast auseinander – ein Billigmodell von H&M. Die Streben sind verbogen und ich muss ihn einmal gegen den Wind halten, damit er nicht umklappt.
Im Eingangsbereich des Vereinshauses spannen bereits einige Schirme. Ich stelle meinen zum Trocknen dazu. Wir treffen uns im Obergeschoss, in dem Raum, in dem dienstags der Chor probt. Zwölf Frauen warten auf mich. Das sind mehr, als mir telefonisch zugesagt haben. Ich starte meinen Audiorekorder und schlage vor, dass wir uns in lockerer Runde zusammensetzen und uns vorstellen.
Die Frauen kennen sich, das spürt man. Es gibt kein verschämtes Fremdeln. Ich habe Mühe, die geführten Parallelgespräche und das gleichzeitige Sprechen und sich Vorstellen der einzelnen Frauen zu verstehen. Es entsteht eine gewisse Gruppendynamik, die Gespräche verselbstständigen sich.
Frau Weißbach, die bereits telefonisch versuchte, mir den Unterschied zwischen PES-Stoffen (Polyesterseide) und PAS-Stoffen (Polyamidseide) zu erläutern, geht in den Vorraum und holt einen Schirm: „Mal sehen, ob der noch nass ist. Das ist ein Schirm von Yves Rocher.“ Allgemeines Gelächter. Eine Frau ruft: „Der wäre nicht durch die Endkontrolle gegangen!“ Frau Weißbach spannt den Schirm auf. Der Stoff ist noch nass und man sieht ihn deutlich durchhängen und flattern. Von links „Das ist wohl ein billiger Schirm.“ – Frau Weißbach ergänzt, der Schirm wäre ein Geschenk gewesen.
Jetzt öffnet sie einen zweiten Schirm: „Das ist einer von uns, das ist ein Minimatic 28.“ Der sei zwar jetzt nicht nass, aber er verändere sich nicht in der Form. Ich höre Frauen sagen, der sieht aber schön aus. Frau Weißbach erzählt weiter: „Die Westdeutschen, die zur Messe gekommen sind, haben gesagt, so was können wir uns gar nicht leisten. Die konnten nur die Polyamidseide nehmen.“ Sie verdeutlicht es anhand eines weiteren Beispiels – eines Pullovers mit Polyamidanteilen. Dieser würde nach dem Waschen immer weiter und sieht irgendwann aus wie ein Sack. Aber dort wo Polyester drin ist, bleibt die Form bestehen.
Ich nutze eine kurze Gesprächspause, um der Runde mein Vorhaben zu schildern. Seit Dezember führe ich eine Art Tagebuch mit Aufzeichnungen und Gesprächsnotizen. Ich werde diese in einem Blog mit dem Titel „Adorfer Frauen – eine Spurensicherung“ veröffentlichen.
Frau Munzert, ehemalige Lehrausbilderin der Schirmfabrik, betont, dass viele, die hier gelernt haben, aus Karl-Marx-Stadt kamen! Allein durch ihre Hände seien in all den Jahren 265 Auszubildende gegangen.
Frau Stritzke erzählt, dass täglich 5 Busse aus Harthau, Klaffenbach und Karl-Marx-Stadt nach Adorf kamen mit „lauter hübschen Weibern“, dass die Adorfer erstaunt waren über die an den Speisesaalfenstern hängenden Dederongardinen und dass in der Fabrik Parkett ausgelegt war.
Eine andere Frau fügt hinzu, dass es gar nicht so viele Menschen in Adorf gab, die in der Fabrik hätten arbeiten können.
Die Frauen erinnern sich. Die Stimmung ist heiter, wenn Frau Lehmann erzählt: „Und dann hieß es mal im Zuschnitt, morgen kommt die Freie Presse. Wir Zuschnittweiber, gestylt mit Lockenwicklern, rote Lippen. Und dann war es um eins, um zwei und es kam keine Freie Presse…“ Alle Frauen lachen.
Keine der Frauen vermutete, arbeitslos zu werden, denn sie arbeiteten ja in der einzigen Schirmfabrik der DDR.
Die produzierten Schirme wurden ab der Währungsunion nicht mehr gekauft. Die ehemaligen Abnehmerländer ČSFR, Ungarn, Rumänien und Polen hatten keine Valuta. Es war derart viel am Lager, dass die Schirme verschenkt werden sollten. Die Belegschaft weigerte sich und verkaufte in Eigenregie die Schirme: am Hauptwerk in Siegmar konnte man sich vor Leuten kaum retten, die reduzierte Schirme kaufen wollten. Bis nach Bärenstein sind die Frauen gefahren, um die Schirme zu verkaufen.
Ich bin gespannt auf die nächsten Treffen und vereinbare mit den Frauen Einzelgespräche ab April.
1 Während des Verblühens, je 29x30cm, Bleistift auf Endlospapier, 2012, Lysann Németh