Immer an der Schirmfabrik vorbei

Meine Erinnerungen an die Schirmfabrik
Als ausgebildete Kindergärtnerin arbeitete ich von 1968 bis zum Ende meiner beruflichen Tätigkeit 2001 als Gruppenerzieherin im Kindergarten Adorf. Der Kindergarten befand sich damals wie heute in der ehemaligen Köhler-Villa unmittelbar neben der Schirmfabrik. Viele Mütter der Kinder, die ich betreute, arbeiteten in der Schirmfabrik. Es gab deshalb viele Kontakte zwischen der Schirmfabrik und dem Kindergarten. Wie damals üblich gab es Patenbrigaden. Ich hatte über sehr viele Jahre, möglicherweise waren es weit mehr als zehn Jahre, mit meinen Kindergartengruppen immer die Lehrlinge, betreut von Frau Munzert, als Patenbrigade. Es gab mehrmals im Jahr gegenseitige Besuche. Wir waren zum Internationalen Frauentag in der Schirmfabrik, aber auch zu anderen Anlässen.
Den Kindern bereitete es Freude, das Gelernte, z.B. Gedichte, Lieder und Märchenspiele darzubieten. Bei den Bastelarbeiten, als Geschenke für die Patenbrigade, gaben sie sich besonders viel Mühe. Die Gegenbesuche waren ebenfalls Höhepunkte im Kindergartenalltag. Die Kinder freuten sich jedes Mal über die Geschenke (z.B.: Handpuppen und Turnbeutel aus Schirmstoffresten). Die Zusammenarbeit lief sehr harmonisch ab. Für die Kinder waren die Besuche immer ein schöner Ansporn. Sie halfen auch mir in meiner Arbeit als Erzieherin.
Annemarie Seifert, 1.3.2020

Kristin Uhlig lernte ich zur Eröffnung der Pochen-Biennale im Oktober 2020 kennen. Dort zeigte ich in Kunstharz gegossene Schirmgestelle. Wie sich herausstellte, hatte ich bereits mit Kristins Mutter über deren Tätigkeit als Schirmnäherin gesprochen. Kristin und ich verabredeten uns für ein Treffen in meinem Atelier.
Der Weg zum Kindergarten ging an der Schirmfabrik vorbei, erzählt Kristin. Die Fabrik stand dort, wo jetzt der Motorradladen ist. Der Kindergarten befindet sich immer noch auf dem benachbarten Grundstück. Ich sehe das Spielzimmer und was wir bei Frau Seifert gelernt haben: Fugenbau mit Bausteinen zum Beispiel oder irgendwelche Bastelsachen. Frau Seifert konnte immer tolle Dinge falten und wenn wir geschlafen haben, hat sie meist was vorbereitet.
Auch mein Schulweg führte an der Schirmfabrik vorbei. Mir erschien der rote Backsteinbau mit Schornstein, Pförtnerhaus und großen Fenstern riesig. Heute kommt es mir vor, als hätte die Fabrik nie dagestanden. Das Grundstück wirkt viel kleiner.
Damals sah man an der Bushaltestelle viele junge Frauen. Einige von denen waren sehr schick. Zumindest empfand ich das als 8jährige so. Dann gab es Frauen, die standen mit ihren Kindern dort. Besonders interessant fanden wir die jungen Mädels, wahrscheinlich waren es Lehrlinge.
Wenn wir mal ganz mutig waren, schlichen wir nach der Schule hinten rum auf das Gelände der Schirmfabrik. Da rein zu gehen war auf jeden Fall immer spannend.
Vielleicht ein- oder zweimal suchte ich meine Mutter in der Fabrik auf, wahrscheinlich weil ich Geld für den Konsum brauchte. Mit einer Schulfreundin klingelte ich beim Pförtner. Für die Mutter meiner Freundin, die in der Mechanik arbeitete, war es leichter sich vom Arbeitsplatz zu entfernen, weil sie nicht nach Leistung entlohnt wurde. Bei meiner Mutter war es problematischer. Wenn sie vom Band weg musste, verdiente sie kein Geld.

Foto: Kristin Uhlig

Ich frage Kristin, ob sie noch Dinge aus der Schirmfabrik besitzt.
Ich habe heute noch eine kleine Tasche und einen Brustbeutel, den meine Mutter genäht hat. Anderes ist weggeflogen. Das ist bedauerlich, weil ja viel Arbeit drin steckte. Darunter leider auch ein Rucksack. Noch vor der Wende fuhr ich ins Pionierlager nach Polen. Für die Reise dahin brauchten wir einen Rucksack. Meine Eltern haben versucht, einen zu kaufen. Man konnte ihn nur bestellen. Als der Rucksack aber drei Wochen vor Fahrt immer noch nicht da war, nähte meine Mutter aus roten Schirmteilen einen Rucksack mit Innentasche, mit Reißverschluss, mit Seitentaschen und verstellbaren Trägern. Drei Tage vor der Reise kam der bestellte Rucksack, aber ich habe selbstverständlich den von meiner Mutter genommen! Da freut sie sich heute noch.