An den Tag bringen

Fast alle Frauen, die ich bisher getroffen habe, bringen einen oder mehrere Gegenstände aus der Schirmfabrik zum Gespräch mit. Frau Munzert breitet Schirme, Futterale, aus Abfallbändern gehäkelte Taschen, Hefter und Ordner auf dem Tisch aus.

In einem befinden sich ca. 100 Zeitungsartikel über den VEB Schirmfabrik Karl-Marx-Stadt. Sie sind chronologisch geordnet (1967 – 1992) und auf Papier geklebt, welches mittlerweile deutliche Altersspuren aufweist. Mal gibt es nur Textauszüge, oft aber sind die Texte bebildert. Man sieht Frauen beim Präsentieren eines Schirmes oder an ihren Arbeitsplätzen. Der Ordner erinnert an ein Fotoalbum: Überschriften wurden mit farbigen Stiften hervorgehoben. Die ausgeschnittenen Artikel sind mit Linien eingerahmt. Ich sehe kleine ausgeschnittene und neben den Artikeln eingeklebte Schirmstoffreste mit unterschiedlichen Mustern – meistens Blüten oder kleine Trapeze.
Für Frau Munzert, die bis 1990 in Adorf als Lehrausbilderin arbeitete, war es selbstverständlich, immer einen Schirm in ihrer Tasche zu tragen. Sie sagt, sie war stolz drauf, konnte so die Schirmfabrik repräsentieren. Heute noch trifft sie sich mit einer ihrer Lehrlingsgruppen. Bei unserem Gespräch zeigt sie mir auf einem Foto die Frauen aus der Gruppe: „Sie lebt nicht mehr, sie organisiert das alles, sie kommt mit, sie ist in den Westen gezogen, sie kommt mit, sie kommt noch mit, sie wurde nicht mehr eingeladen, sie ist im Westen, sie kommt mit, sie kommt noch mit und sie.“ Wenn man die Personen zählt, waren es elf Lehrlinge aus der Klasse von 1969, wovon sich sieben mit der ehemaligen Lehrausbilderin immer noch treffen.

Alle waren darauf bedacht, gute Ware zu liefern, und wer nicht, der gehörte nicht in unsere Fabrik, so Frau Aurich. Sie freut sich, wann immer sie einen ihrer Schirme sieht. Erst vor kurzem waren sie mit dem Auto unterwegs: „Ach, das war ein Schirmfabrikschirm!“, sagt sie zu ihrem Mann, der am Steuer sitzt. 1958 begann sie eine Ausbildung zur Schirmnäherin, da befand sich der Betriebsteil noch in Neukirchen. Von der Pike auf wurde alles mit Hand genäht. Sie erzählt davon, dass ihr Konfirmantengeschenk – ein Regenschirm von ihrem Patenonkel – Auslöser für ihre Entscheidung war, in der Schirmfabrik zu lernen. Sie hat den Schirm zum Gespräch mitgebracht und zeigt mir, dass er nicht mehr zehnteilig ist. Sie hat ihn später auf acht Teile umgestellt. Inzwischen hat er auch viele Bezüge bekommen. Das Gestell ist aber immer noch das Gleiche. Nach ihrer Ausbildung wurde sie angesprochen, ob sie sich nicht als Mechanikerin weiterbilden möchte. In Kursen hat sie feilen, sägen, bohren und drehen gelernt und war kurze Zeit in der Schlosserei im Hauptwerk Siegmar. Ich erfahre, dass Sie als Erste mit nach Adorf gekommen ist. 1963 hat sie gemeinsam mit einem Kollegen einen Raum im obersten Saal eingerichtet, ausgestattet mit Werkbank, Schraubstock und Schleifmaschine.

Frau Stritzke begann 1965 in Adorf eine Lehre als Schirmmacherin. Ihr Vater kassierte nebenberuflich Versicherungen im Dorf und kam damals mit vielen Leuten zusammen, wo er sich nach seinem Mädchen erkundigte, wie sie sich denn so macht. Der Vater kannte Frau Aurich und fragte, ob seine Tochter nicht in der Mechanik anfangen könnte, um Maschinen zu reparieren? Der Mechanikermeister, Herr Miksch, sagte, sie solle erst einmal weiter nähen, denn es ist sehr gut, wenn man das beherrscht, damit man später weiß, um was es geht. So lernte sie viel dazu. Es waren ja alte Maschinen und Herr Miksch musste sich immer etwas einfallen lassen. Es gab keine Ersatzteile, es ging um Feineinstellungen, wenn die Nadel Aussetzer machte oder wenn der Faden zu lang blieb und nicht mehr richtig abgeschnitten wurde.
Frau Stritzke erklärt mir die unterschiedlichen Nähte und greift nach einem Futteral. Bei den Doppelsteppstich-Maschinen hatte die Naht einen geraden Stich. Später, schon während ihrer Lehrzeit, wurden Interlock-Nähmaschinen im Betrieb eingeführt. Für diese Maschinen entwickelten die Adorfer eine spezielle Vorrichtung für das Umschlagen des Stoffes. Diese so genannte Tüte bringt Frau Stritzke zum Gespräch mit. Die Tüte wurde auf die Stichplatte aufgelötet und bewirkte beim Einführen des Stoffes, dass dieser umgeschlagen wurde und so eine haltbare wasserbeständige Naht entstand, dessen Nahtbreite jetzt nur noch 6mm betrug und nicht wie beim Doppelsteppstich 9mm. Dieses Teil ist wohl einmalig auf der Welt, sagt sie und lacht dabei.