Das war ja auch ein wenig unheimlich. Die Bäume wuchsen aus dem Dach heraus. Meine Schwester wohnt noch oben im Elternhaus in Adorf und ich bin stets hier vorbeigefahren. Und jedes Mal, was wird denn aus der Fabrik noch werden? Erst haben wir auch gesagt, so ein großes Gebäude kann doch gar nicht leer stehen. Alles musste gehen, alles. Bis es eben dann verfiel. Ja.
Der 1. März 1991 war mein letzter Arbeitstag und von da an hat es mich nicht mehr interessiert. Ich habe keinen Fuß mehr in die Fabrik gesetzt. Wer im Unterricht aufgepasst hat, der wusste was kommt. Das große Theater ist dann eingetreten. Klar waren viele enttäuscht, das Hoffen war unsinnig. Es betraf ja nicht nur die Frauen, die hier gearbeitet haben, sondern auch in anderen Betrieben mitunter deren Männer.
Ich war 41 – im besten Alter könnte man sagen, wohnte damals in Karl-Marx-Stadt und musste dort zum Arbeitsamt. Massen von Menschen standen die Treppe hoch und ich darunter, niemand Bekanntes. Mir war die ganze Zeit übel. Dort ist mir das wahrscheinlich zum ersten Mal richtig bewusst geworden, nun bin ich eine unter vielen und die Sache erscheint hoffnungslos. Wo man später hinkam, gab es immer nur das eine Thema, die Kinder, die Geschwister, die Eltern, alle – was soll denn nur aus uns werden, nun müssen wir wohl alle rüber?
Ab 1991 haben wir hinten in der Lehrwerkstatt noch kleinere Aufträge abgearbeitet. Wir waren dann aber schon alle in Kurzarbeit und hatten uns parallel für Umschulungen und Lehrgänge angemeldet. Als ich wusste, zum 1. Juli ist Schluss, hatte ich in einem Gardinengeschäft in Neukirchen angefragt. Im Oktober hätte ich dort anfangen können. Der Zufall wollte es aber, dass die Kassenärztliche Vereinigung in Chemnitz Leute suchte, die aus dem Gesundheitswesen kamen und ich war ja ausgebildete Krippenerzieherin. Das war ein Glückstreffer. Ich war also nicht arbeitslos. Es ging nahtlos für mich weiter. Mit einer ganz anderen Tätigkeit, im Büro am Schreibtisch, dann ging es mit dem Computer los. Aber es war gut.
Nein, ich wollte das nicht sehen. Ich war das letzte Mal dort, als ich mein Lager abgeschlossen habe. Es wurde erzählt, das Dach oben im Zuschnitt ist eingebrochen. Na ja, klar es war eine Frage der Zeit, wenn es reinregnet und im Winter, dass es irgendwann zusammenfällt. Das Bild ist mir immer noch allgegenwärtig. Wenn ich dort vorbei fahre, sehe ich die Schirmfabrik. Das ist komisch. Das Gebäude hat das ganze Areal eingenommen. Ein riesengroßer roter Ziegelbau, der irgendwie sehr markant war.
In der Abwicklungsphase kamen Leute vom Arbeitsamt in die Schirmfabrik und haben uns Vorschläge unterbreitet, in welchen anderen Berufen Mitarbeiter benötigt werden und da habe ich mich als Altenpflegerin beworben. Zwei Jahre habe ich noch mal gelernt.
Mir hat meine Arbeit Spaß gemacht, ich wollte eigentlich nicht wieder zurück in den Handel. Aber ich musste, weil ich eine Ausbildung als Lebensmittel- und Fleischereifachverkäuferin hatte. Ich war erst beim Privatfleischer und danach unten beim Penny.
Die Wende war für uns Arbeiterinnen eigentlich ganz schlimm. Wir wussten absolut nicht was wird. Wir wurden alle entlassen. Es war heftig. Die haben alle Umschulungen gemacht, aber als was, als Krankenpfleger. Es gab ja nix, das war schlimm. Ich wollte nicht laufend aufs Arbeitsamt und mich von einer ABM zur nächsten hangeln. Mein Mann war LKW-Fahrer und fuhr damals Bier für den Westen und da habe ich 1990 einen Getränkeverkauf in Jahnsdorf aufgemacht. Ich habe mir einen Laden gesucht, es stand ja alles frei. Ich bin zum Bürgermeister, habe einen Vertrag gemacht und Miete bezahlt. Bis zur Rente habe ich das gemacht.
Ich war zwar zuletzt mit meinem Mann noch mal oben. Wir standen ganz oben unterm Dach und schauten hinaus zum Kindergarten. Wir sind noch mal durchgelaufen. Ach, da hat es reingeregnet und alles. Es war schon viel kaputt. Einige haben Parkett, Holz zum verfeuern rausgeholt. Ich entdeckte auch einiges von meinem ganzen Zeug, fein säuberlich abgeheftet, die Briefe und alles. Das war alles noch da.
Für mich war 1990 Schluss. Glücklicherweise suchte das Arbeitsamt Mitarbeiter, welche mit helfen sollten, die Karteikarten der Arbeitslosen aus den aufgelösten Betrieben zu verwalten. Das nannte sich ABM für ABM und ging für mich bis 1999. Und dann wurde auch ich arbeitslos.
Es gab einen Versuch bis Anfang 1992 in kleiner Gruppe im ehemaligen Wohnheim der vietnamesischen Vertragsarbeiter weiterzumachen. Der scheiterte und ich musste mich arbeitslos melden. Auf Eigeninitiative habe ich erstmal an einem Computerlehrgang der Volkssolidarität teilgenommen. Irgendwie musst Du ja was machen, dachte ich und suchte mit reichlichen 50 Jahren Arbeit. Noch im gleichen Jahr machte ich dann eine Umschulung im Bereich Lager, Versand, Verkauf und Handel.
Ich war noch nicht so alt, um in Rente gehen zu können und machte eine kaufmännische Weiterbildung. In der Schule hing irgendwann ein Plakat an der Tür: Treuhand sucht Mitarbeiter und ich habe mich beworben. Aus dem anfänglich befristeten Jahresvertrag wurden dann mehr als zehn, bis zu meiner Rente. Dort war ich im Bereich Liegenschaften beschäftigt.
Die Fabriken wurden ja leer gemacht. Da waren wir nicht dabei. Alles wurde noch ausgeräumt. Wo das hingefahren wurde, weiß ich nicht. Wo überhaupt das ganze Zeug gelandet ist – die Masse an Garderobenschränken. Wir waren ja über 300 Frauen in der Schirmfabrik. Der Speisesaal war ja voller Tische und Stühle – das war ja alles da. Ich weiß nicht, wo das gelandet ist.
Es war alles weg, es ist alles verfallen. Das war schade – doch. Vor allem, wenn man so lange hier gearbeitet hat.